^j J-rif\Uchoftköfer SOWJET- RUSSIAND IM UMBAU J^ro-nkfurf^rJ^ociefÄis -Druckerei Cj. m.L.TT: jHotetJtincß Ij u r/t PC ^/«ao" UBRAKY UNIVEUSITY OF CALIFORNIA SAN DIEGO Fritz Schotthöfer S o w j et-Rußland im Umbau Frankfurt am Main Frankfurter Societäts-Druckerei G. m. b. H. Abteilung Buchverlag. Copyright by Frankfurter Societäts-Druckerei G, m. b. H. Abteilung Buchverlag Frankfurt am Main. Vorwort Vorwort- Die in diesem Bande gesammelten Aufsätze sind mit einigen Ausnahmen in der „Frankfurter Zeitung" erschienen. Sie wurden während eines Studienaufenthaltes in Rußland ge- schrieben und umfassen den Zeitabschnitt von September 1921 bis Januar 1922. Sowjet-Rußland befand sich in einem Stadium rascher innerer Entwicklung. Es hatte darum keinen Sinn, jeden einzelnen Schritt der Regierung zu beschreiben. Es mußte viel- mehr darauf ankommen, die große Richtung der Entwicklung zu erkennen und in einer Art Längsschnitt festzuhalten. Das beste Mittel zu diesem Zweck schien mir, die wichtigsten Probleme zu schildern, vor denen die Sowjets und das ganze russische Volk stehen. Die Sammlung der Aufsätze erhebt also nicht den Anspruch, ein vollkommenes Bild zu geben. Aber sie stellt vielleicht einen Abschnitt aus der Entwicklungskurve dar, der bereits die Formel für den weiteren Verlauf der Kurve enthält. Es ist nicht leicht, dem russischen Problem gegenüber- zutreten. Objektivität der Beobachtung ist etwas Selbstver- ständliches. Aber was heißt hier Objektivität? Man kann Sozialist sein und den größten historischen Versuch zur Errich- tung einer idealen Gesellschaftsverfassung sachlich mißbilligen. Darum geht in der Tat der heftigste Streit zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Arbeiterbewegung in der ganzen Welt. Auch ein überzeugter Kommunist mag an der Politik der Sowjets noch harte Kritik üben. Man kann den Kommunismus theoretisch 1* 4 Vorwort für einen Irrtum halten und sich dennoch bemühen, sachlich zu bleiben. Das war mein Standpunkt. Die Aufgabe des Beobachters verschiebt sich dann in eine andere Ebene. Es gilt nicht, Beweise für oder gegen die Möglichkeit der Verwirklichung des kommu- nistischen Ideals zu suchen, sondern Rußland zu sehen, das ganze Rußland und nicht bloß das Sowjet-Regime, das dort errichtet wurde. Politik ist stete Bewegung, Auch die gewaltsamste Revolution ist nur eine Phase im Leben der Völker, Die Neuge- staltung kann von Dauer sein, sich festigen und auswachsen. Sie kann früher oder später eine Rückbildung erfahren. Auf jeden Fall wird das revolutionäre Erlebnis nicht mehr aus dem Bewußtsein des gesamten Volkes auszulöschen sein und ein Element des weiteren geschichtlichen Werdens bilden. So legte ich mir meine Aufgabe in folgendem Sinne zu- recht; Das heutige Rußland ist eine Tatsache, Was das Sowjet- Regime an Gutem oder Schlechtem geschaffen haben mag, ist ein Bestandteil dieses Rußlands, ist jedenfalls auch eine Tatsache und beim Wiederaufbau des durch den Krieg, zwei Revolutionen und einen zweijährigen Bürgerkrieg zerrütteten Landes nicht einfach auszuschalten. Der Verfasser, I. Bilder der Wirklichkeit, Petersburg Petersburg. In der Eremitage, der alten kaiserlichen Gemäldegalerie, die in ihrem Bestände unversehrt dasteht, hängt unter dea vierzig Rembrandts auch die große ,,Danae". Ein wundervolles Gemälde, dessen Weichheit in Farbe und Licht keine Nach- bildung wiederzugeben vermag. Es wurde mir zum Sinnbilde: Aus dem Helldunkel, sagen wir schon Dunkel der Gegenwart, leuchtet noch immer Rußland, das alte und das neue in eins verschmolzen. Was kann eine Revolution umstürzen? Das staatliche System, die wirtschaftliche Verfassung, niemals die Eigenart eines Volkes, Ein Krieg kann ein Land verarmen, bis an den Rand des Hungertodes bringen, umso näher, je weniger die aufbauenden Energien sich frei entfalten können. Aber es wird immer etwas bleiben: der Grundcharakter des Volkes. Und dem Russentum begegnet man hier auf Schritt und Tritt. Petersburg erscheint in Lumpen gehüllt. Es fehlt ihm das Brio, das die Welt des Zaren, der Großfürsten, des Adels und des großen bürgerlichen Reichtums darüber aus- strahlte. Es ist eine Stadt der Proletarier. Man sieht hin und wieder elegante weibliche Gestalten auf den Straßen. Man wird bald vielleicht noch mehr sehen. Denn in den Läden, die nach zweijährigem Geschäftsschluß sich nach und nach wieder öffnen, mit anderen Besitzern freilich, nehmen die Artikel der Damenmoden einen ersten Platz ein. Aber die große Masse ist im ganzen bescheiden gekleidet, nicht schlecht, 8 Petersburg auch warm genug, das Schuhzeug namentlich ist gut. In langen Wanderungen durch die Straßen sah ich wohl viel Zerlumpte, viele Bettler, aber nirgends so elend aussehende Kinder, wie man sie in den ärmeren Vierteln unserer Groß- städte als Opfer der Unterernährung im Kriege noch immer sieht. Vielleicht liegt es daran, daß die russische Lebenshaltung niedriger ist als bei uns und daß die Entbehrung dann nicht so verheerend wirkt. Freilich, das eigentliche Elend sieht man nicht. Es ist genau wie bei uns, wo die Fremden von den Schaufenstern hypnotisiert wurden und nicht in die Wohnungen schauten. Hier in Petersburg wird man indessen deutlich genug darauf gestoßen. Denn die Auslagen der Läden sind noch kümmerlich. Der Newski Prospekt mit seinen leeren oberen Stockwerken, an denen noch die verwitterten goldenen Buchstaben der alten Geschäftsfirmen hängen, macht einen erschütternden Eindruck, Man ahnt die Herrlichkeit, die hier verschwunden ist, und man sieht auch, daß hier das Herz zu schlagen auf- gehört hat, das neben dem Hof dieser großen Stadt das Leben gab, die Banken und der Großhandel. Sie sind weg und die Staatsmaschine hat sie bis jetzt nicht ersetzt, weil sie sie nicht brauchen will. Der Sitz der Regierung ist Moskau, Alle Zentralbehörden sind dort. Und es ist leider richtig, daß Petersburg einen namhaften Bruchteil seiner Bevölkerung ver- loren hat. Was die Stadt gelitten hat, erzählen ein paar statistische Zahlen: vor dem Krieg war die Sterblichkeit in Petersburg 23.2 auf tausend Einwohner. Sie betrug 43.7 im Jahre 1918, und im Jahre 1919 stieg sie auf 72,6 Aber trotz allem kommt man von dem Eindruck nicht los: nicht alles Leben ist erstorben. In dem Elendsgewande bewegt sich noch ein Volk, in dem unter der Verzweiflung der Lebensmut leise flackert. Rußland ist die Danae, eine arme Danae, die den Gold- regen erwartet, und das ganze Geheimnis ist vielleicht, ob die Petersburg 9 Alte, die auf Rembrandts wundervollem Bilde das beglückende Licht hereinströmen läßt, die Vorhänge noch weiter öffnet oder sie wieder zufallen läßt. Nur wenige Läden sind geöffnet, mit einer Einrichtung, die aus allen Ecken zusammengesucht scheint. Einige haben sich schon etwas schicker aufgemacht, Blumengeschäfte mit zarten Chrysanthemen, Pelzgeschäfte, in denen wohl nur das verkaufte Eigentum der Bourgeois etwas renoviert ans Tageslicht kommt. Viele Fenster zeigen Uhren oder Artikel für den Bedarf der elektrischen Beleuchtung- Die große Mehrzahl ist den Lebensmitteln eingeräumt, die neben der mageren amtlichen Verteilung zum Handelsvertrieb zugelassen sind. Man findet alles, Butter, Kaffee, Fleisch, Wurst, in allen Abarten, Lachs, Fische, Obst, Backwaren, die übrigens auch wie die Zigaretten von zahllosen Kleinhändlern auf der Straße feilgeboten werden. Merkwürdiger Weise kommen in einzelnen Läden auch Champagner und feine Weine zum Vorschein, offenbar die Restbestände aus der Vorkriegszeit. Wer kauft diese Waren? Der Markt scheint noch nicht sehr ausgedehnt zu sein. Die Kartoffeln, die die Bauern in Säcken auf dem Rücken herein- bringen, dürften den größten Absatz finden. Es war mir nicht möglich, alle Preise zu erfahren. In einem Cafe gab man mir für 15 000 Rubel eine Tasse Kakao und zwei Stücke Gebäck, Diese Riesensumme beträgt in deutschem Gelde — einen wirklichen Geldhandel mit geregeltem Wechselkurs gibt es nicht — viel weniger natürlich. Für eine Mark konnte ich im September vorigen Jahres 440 Rubel eintauschen. Daran läßt sich die Phantastik der Preise ermessen. Die Geschäftsleute haben übrigens sich auf die neuen Verhältnisse eingestellt. Wo Preise angegeben sind, sieht man nur die Zahlen für die Tausende; die Ziffer 2 bedeutet also 2 Tausend. Der Milreis ist ja aus ähnlichen wirtschaftlichen Störungen entstanden. Die Regierung gibt in der Tat keine kleineren Scheine mehr aus. 10 Petersburg Der Verkehr auf den Hauptstraßen ist lebhaft genug. Die amtlichen Autos, ziemlich abgerackert, rasen auf und ab, dazwischen humpeln Droschken und etwas sporadisch rappeln die elektrischen Tramwagen daher. Die Trams sehen aus, wie sie aussehen müssen, wenn sie seit acht Jahren keine reparierende Hand mehr an sich fühlen. Von einer bewunderns- werten Disziplin sind die Fahrgäste, Sie stehen an den Kaltestellen, jedenfalls an den Kopfstationen in langen, ge- duldigen Reihen und warten auf ihren Platz, Die Wagen selbst werden dann freilich bis aufs Trittbrett besetzt. Im Baedeker ist zu lesen, daß das Straßenpflaster Petersburgs und aller russischen Städte immer zu wünschen übrig ließ. Die Holz- pflasterung auf dem Newski hat heute die üblichen Täler und Berge, die die Autos hervorbringen. In den Seitenstraßen sieht man hin und wieder die Beweise, daß etwas Holzpflaster als Heizung in die Oefen gewandert ist. Auch sollen in den äußeren Stadtteilen hölzerne Häuser diesen Weg gegangen sein. Dafür sind aber alle Bäume der öffentlichen Anlagen vollzählig auf ihrem Platz, Im Alexandergarten an der Admiralität, an der eine ausgebrannte Ecke von den Revolutionskämpfen berichtet, weiden einige halbverhungerte Pferde auf den Rasenflächen, Eines liegt in den letzten Zügen am Boden, Die Anlagen sind vernachlässigt, aber nirgends zerstört worden. Vor allem stehen noch die Denkmäler der großen Zaren, Nur den Alexander III,, den Fürsten Trubetzkoy am Nikolaibahnhof, hat man in eine Bretterumhüllung gesetzt, augenscheinlich aber bloß zu dem Zweck, Estraden oder Rednerbühnen zu schaffen. Sonst sind die Embleme des Zarismus verschwunden, und an Stelle der Krone und des Doppeladlers sieht man das „R, S, F. S. R," der , (Russischen, sozialistischen, föderalistischen Sowjet-Republik", Drüben über der Newa steht auch noch die Peter-Pauls-Festung, ohne die keine Regierung in Rußland auszukommen vermag. Petersburg 1 1 Was man mit dem Auge sieht, ist Oberfläche. Aber es ist ein Element zur Beurteilung. Das Volksleben ist unter der materiellen Not todmüde geworden, aber es ist nicht erloschen. In den Kirchen herrscht die ganze alte gottesdienstliche Pracht. In der Isaakskirche, die vor hundert Jahren als eine Art orthodoxer Peterskirche gegen Rom gebaut wurde, hörte ich die alten wundervollen a capella-Chöre des russischen Kirchen- gesangs, und die Gläubigen küßten die goldenen Ikonen, machten ihre majestätischen Kreuzeszeichen, wie sie nicht einmal die Romanen zustande bringen. Hier ist noch ein Strom, der einfließt in das Gesamtleben des Volkes, dem ein Krieg und eine Revolution die gewaltigsten Schicksale bereitet haben. 12 Moskau Moskau. „Wie — Sie wollen nach Rußland?" Vor meiner Abreise wußte ich kaum mehr, wie ich die besorgten Fragen meiner Bekannten beantworten sollte, ohne die Pose eines Ritters ohne Furcht und Tadel anzunehmen. Der eine empfahl mir, ja den Revolver nicht zu vergessen, der andere, verschiedene Butter- brote einzupacken. Ein ganz Nachdenklicher riet: ,, Nehmen Sie Salz und Nägel mit, soviel Sie schleppen können, daran herrscht ein entsetzlicher Mangel und dafür können Sie Lebens- mittel eintauschen." Man mag mir sagen, meine Freunde seien zu ängstliche Gemüter gewesen. Aber in ihren Köpfen malte sich die russische Welt doch wie so ziemlich in allen west- europäischen Köpfen, Ihre Vorstellungen waren sogar noch sehr maßvoll, wenn man sie mit den Märchen der amerikanischen Presse vergleicht, die Edgar Allen Poe Ehre gemacht hätten, wenn sie nicht in dem jede Nüancierung ausschließenden '1 elegrammstil geschrieben wären. Nun bin ich lange Monate hier und urteile nicht nach den flüchtigen Eindrücken der ersten Stunde. Aber ich sehe, daß ich recht gehabt habe mit meiner Auffassung; die Wirklichkeit ist etwas für sich, und die aus zwei oder drei groben Tatsachen gefolgerten Verallgemeinerungen sind etwas für sich. Und vor allem: die Dinge bleiben nie und nirgends auf einem Flecke stehen. Im Oktober 1917 hat es hier Kämpfe gegeben. Die Kremlmauer, die Nikitskaja, vielleicht andere Plätze, die ich nicht besucht habe, tragen die Spuren davon. Aber seitdem ist es still, und wenn nicht alles täuscht, Moskau 13 SO gibt es wenig Großstädte, in denen man nachts mit größerer Sicherheit durch einsame Straßen wandelt als hier in Moskau, Und zu essen gibt es auch, sogar frischen Kaviar, wenn man die zwei- bis dreihunderttausend Rubel fürs russische Pfund aus- geben will. Dieser Kaviar bleibt freilich Kaviar fürs Volk, das an den offiziellen Verteilungsstellen in Reihen steht, um das staatliche Schwarzbrot zu erhalten, weil es sich das teure Weiß- brot nicht kaufen kann. Ein Deutscher, der vor dem Kriege hier gelebt hat, sagt ■mir: ,,Im Auslande hatte man falsche Vorstellungen vom Leben im zaristischen Rußland; wenn man einmal die strenge Kontrolle an der Grenze hinter sich hätte, dann könnte man tun, was man wollte," Ist es jetzt anders? Verstehen wir uns recht! Ganz so wie früher ist es gewiß nicht, bei weitem nicht. Der Krieg oder die Revolution sind nirgends in Europa gekommen, um alles zu lassen, wie es war, besonders die Revolution nicht, die nun «inmal ihre Hauptaufgabe darin erblickt. Verschiedenes umzu- stürzen. Und mit der Revolution läßt sich im allgemeinen so wenig rechten wie mit einem Erdbeben, Sie stürzt in der Regel auch das Alte, ohne sofort mit einem fix und fertigen Neubau aufwarten zu können. Das ist naturgesetzlich so. Auch wenn man das russische ,,Nitschewo" nicht für den letzten Schluß der Lebensweisheit hält, muß man sich mit solchen einfachsten historischen Grundwahrheiten abfinden. Unter diesen Voraus- setzungen ist aber in der Tat nicht viel verändert- Ich laufe seit Wochen ohne meinen Paß herum, der auf irgendeiner Behörde liegt. Ich gehe ins Restaurant, ins Theater, zu Bekannten, fahre im Auto aufs Land, wenn ich Gelegenheit dazu habe, und nie- mand stört mich bei diesen notwendigen und wünschenswerten Beschäftigungen. Freilich, ich benehme mich auch so, wie es die Lan- desgesetze verlangen. Ich treibe keine Politik, also auch keine subversive, ich kaufe keine Diamanten, um sie ins Aus- 14 Moskau land zu verschieben, und den Revolver, den mir freundschaft- licher Rat aufdrängen wollte und den ich auch in Deutschland nicht tragen dürfte, habe ich mir überhaupt nicht gekauft. Mit der Polizei hatte ich nur einmal zu tun. Wir saßen eines Abends in einem neu eröffneten Cafe, in dem plötzlich eine Razzia ver- anstaltet wurde. Eine russische Spezialität sind Razzien gewiß nicht. Die jungen Polizisten, die unsere deutschen Papiere nicht für ausreichend hielten, um selbst zu entscheiden, behandelten uns höflich. Wir mußten allerdings bis morgens drei Uhr warten, bis der zuständige Polizeibeamte kam und uns entließ — unter Entschuldigungen entließ. Die anwesenden Russen wurden ins Revier transportiert, aber wie ich nachträglich erfuhr, waren sie am folgenden Nachmittag alle auf freiem Fuß bis auf einen, den man gesucht hatte. Also man lebt hier als Ausländer nicht wie ein Gefangener, dem nur ein kleiner Bewegungsraum gegönnt wird. Wären die Eisenbahnen in gutem Zustande, gäbe es Züge genug, gäbe es Hotels in den Provinzstädten, dann könnte man sogar ungeniert reisen. Gute Schnellzüge gibt es nur auf ein paar Linien, nach Petersburg, nach Riga, und für diese braucht man besondere Erlaubnis, Aber dann kann man bequem in einem Schlafwagen reisen. In den gewöhnlichen Zügen erlebt man jene Szenen der UeberfüUung, an die wir in Deutschland in der Waffenstillstands- zeit gewöhnt waren, in russischer Uebertragung ins Gigantische. An Hotels gibt es nur das, was offiziell dazu bestimmt ist. In Petersburg ist das frühere Hotel d'Angleterre für diese Zwecke in Betrieb, in Moskau Savoy und ein anderes Haus. Der Gast, der zugelassen wird, darf seine Berechnung ungefähr auf die Preise einstellen, die in den alten Baedekern verzeichnet sind. Nur versteht sich das alles in Goldrubel, nicht in Sowjetrubel, und bei der Umrechnung in die fremde Valuta wird man den Unterschied zwischen Papiergeld und Goldwerten recht empfindlich gewahr. Moskau 15 Vor ein paar Monaten war das Leben noch viel schlimmer. Es gab keine Läden, kein Restaurant, man war auf den „paiok"^ angewiesen, die offizielle Lebensmittelration, die nicht ver- führerisch war, Schleichhandel blühte daneben, aber er war gefährlicher als bei uns. Jetzt, seit der Freigabe des Handels, ist diese Sorge behoben, Bescheidenheit der Ansprüche ist noch geboten. Wer erwartet, den Kusnetzkij Most, die Petrowka, die Twerskaja bereits im alten Glänze ihrer eleganten Läden wiederzufinden, täuscht sich. Die , .Handelsreihen" stehen leer. Die neuen Geschäfte richten sich langsam und notdürftig ein. Aber man kann schon so ziemlich alles kaufen, was man braucht, wenn man nicht das Beste haben will, und wenn man sich mit dem begnügt, was die Bourgeoisie den Händlern von ihren Kostbarkeiten zum Verkauf in Kommission gibt, um das Leben zu fristen. Und auf dem Lebensmittelmarkt fehlt es an nichts mehr. Die Bäckereien sind voll von dem mannigfaltigen Weißmehlgebäck des Moskau der Vorkriegszeit, Es gibt Restaurants, in denen man für 120 000 bis 150 000 Rubel eine Mahlzeit von drei bis vier Gängen haben kann, etwas billiger sogar. Eines dieser Lokale hat sich im Speisesaal des früheren Hotels „Elite" aufgetan, ganz im Vorkriegsstil, sogar mit den früheren Kellnern, Auf Silvesterabend gab es da einen Reveillon nach Pariser Art, bei dem die trockene Mahlzeit IK Million und die Flasche Champagner 5 Millionen Rubel kostete. Selbst- verständlich bleiben die alten Sehenswürdigkeiten des Moskauer Nachtlebens, wie Strelna, noch im tiefen Dunkel versunken. Soweit hat sich die Privatwirtschaft noch nicht aus dem Staats- kommunismus herausgearbeitet, um die Märkte des Vergnügens wieder öffnen zu können, Sie würden auch nicht passen in den Geist dieser Zeit, der die Probleme des Lebens vielleicht noch schwerer nimmt, als sie sind. Die proletarische Staatsraison hat trotz allem etwas von der bürgerlichen Sittenstrenge eines Cromwell, Denn in der Käuflichkeit der Liebe findet der 16 Moskau Kapitalismus doch seinen deutlichst kapitalistischen Ausdruck. Allerdings in kleinbürgerlicher Aufmachung, in Form kleiner Cafes, dringt das Uebel doch leise ein. Bitter empfindet man die Hemmungen im Verkehr, Die Elektrische ist im Betrieb, aber nicht auf allen Linien und nur mit einem geringen Bestände an Wagen, die zudem nicht ein- ladend aussehen, Sie sind auch für zahlende Fahrgäste, zehn- tausend Rubel die kürzeste Strecke, bloß einige Stunden frei. Die übrigen sind reserviert für die Inhaber von Ausweisen, die nur den Arbeitern und Staatsangestellten ausgehändigt werden. Diese Glücklichen müssen freilich Geduld haben, um von ihren Rechten Gebrauch machen zu können. Kutschen, die alten ^Jswoschtschiks", gibt es genug, aber ausschließlich für Leute, die Zehntausende für eine Fahrt ausgeben können. Die Kutscher Tiaben übrigens das Rätsel des russischen Geldwesens recht praktisch gelöst: Wenn man nach dem Preise fragt, sagen sie in aller Gemütsruhe fünfzig, sechzig, siebzig ,, Kopeken", ganz wie in alter Zeit, Nur bedeutet die Kopeke jetzt tausend Rubel in Sowjetpapier, Auch sonst haben diese Hüter der Tradition der neueren Zeit nichts geopfert. Sie vergessen vor keiner Kirche, vor der sie vorbeifahren, das majestätische orthodoxe Kreuzzeichen zu machen, und da es so unendlich viele große xmd kleine Kirchen gibt, fehlt es ihnen nicht an Gelegenheit. Der Kreml ist geschlossen, aber es ist nicht unmöglich, eine Erlaubnis zum Besuche zu erlangen. Man muß dann die strenge Kontrolle der militärischen Posten passieren, und man bekommt auch nicht alles zu sehen, was im Baedeker steht. Von der Ferne präsentiert er seine ganze orientalische Herrlichkeit über der Tatarenmauer, die ihn umgrenzt. Aber es ist ein Märchen, daß die Häupter des Staates im Kreml sich selbst zur Gefangenschaft verurteilen. Lenin lebte den Sommer über auf seiner ,, Datsche", seinem Landhaus, zu dem er jeden Tag hinausfuhr, und der Zug, den er zu benutzen pflegte, hieß der Moskau 17 Lenin - Zug- Trotzki, den Vielbeschäftigten, der seine Arbeit chronometriert, kann man im Auto durch die Straßen rasen sehen. Moskau lebt und will noch intensiver leben. Man fühlt seinen Puls sich regen, man fühlt, wie alles, was die Jahre her sich nicht entfalten konnte, nun zum Lichte drängt. Aber ein Blühen ist es nicht. Nein, es liegt ein Druck darauf. Die Luft ist voll vom Groll der verarmten Bourgeoisie und den nicht erfüllten Hoffnungen des Proletariats, das hinter den vorhang- iosen Fenstern in den zerfallenden Wohnungen der Reichen haust. Die Theater spielen alle. Die Große Oper gibt mit Vor- liebe Balletts. Aber im Saale fehlt das Brio einer müßigen Gesellschaft, die nichts zu tun hat, als Luxus zu treiben. Seit kurzem finden Sonntags Wettrennen statt, aber das Publikum ist wie in den Theatern sachlich gestimmt, anstatt sich selber ein Schauspiel sein zu wollen. Mir selbst ist es in diesem Ver- such, das Moskauer Leben in ein paar großen Strichen zu umreißen, ebenso ergangen: die Gegenständlichkeit wird zur Hauptsache. Man windet sich nur schwer heraus aus den un- mittelbaren Eindrücken. Ueber der Betrachtung des zer- brochenen, erst mühsam geflickten Rahmens, in dem das Leben sich vollzieht, verliert man die Distanz, aus der das inter- essantere Bild der russischen Seele mit ihren Zuckungen, Aengsten, Hoffnungen und — Gelassenheit sich dem eindringen- den Sinne voll offenbart. IS Der Friedhof der Bourgeoisie Der Friedhof der Bourgeoisie, Auch Moskau hat Dante gefeiert. Professoren haben einen Zyklus von Vorträgen gehalten. Die neuen Buchhandlungen, die jetzt aus alten Büchervorräten entstehen, haben dazu die Werke Dantes in die Schaufenster gelegt. Neben einem Jubiläums- schriftchen in Russisch sah ich eine italienische Ausgabe der ,,Vita nuova" liegen. Ich habe sie gekauft, halb aus dem dunklen Gefühl, daß man vor dem apokalyptischen Fresko des heutigen Rußland Dante lesen müsse. Ich habe in dem Büchlein geblättert und nun werde ich diese Zeilen nicht mehr los: Poi vidi cose dubitose molte Nel vano imaginäre, ov' io entrai. Tritt man hier in Moskau nicht in eine Welt Dantescher Phantasie, die Wirklichkeit geworden ist und wiederum voll ist von Schöpfungen einer , .vergeblichen Einbildung"? Das Rätsel erneuert sich mit jedem Tag vor den ,, zweifelhaften Dingen", vor seltsamen Erlebnissen, die jeder Tag bringt. Dieses Land ist in die Ideologie eines einzigen Denkers gehüllt worden: Karl Marx! Lange vor dem Krieg erzählte man, die nicht sehr gelehrten Zensoren der Zarenpolizei hätten ,,Das Kapital" von Marx gemütsruhig hereingelassen. Ein Buch mit diesem eminent konservativen Titel schien nicht gefährlich zu sein. Vielleicht haben sie später ihren Irrtum gemerkt. Aber das trojanische Pferd war in der Stadt. Seinem Bauch sind jene Lehren ent- stiegen, die in der ,, russischen Seele" mit ihrer märtyrerhaften Der Friedhof der Bourgeoisie IQ Hingabe an die Idee, an eine Idee zur ungeheuerlichsten sozialen Explosionskraft geworden sind. Man hat hier viele Büsten von Karl Marx aufgestellt, gute und schlechte, am meisten in Form einer Stele, überlebensgroß, die mächtige Stirn und den mächtigen Bart stark herausstilisiert. Und noch mehr sieht man das Losungswort des kommunistischen Manifests: ,,Proletarii wsech stran, soedinjaites." Auf dem Papiergeld steht es außerdem auf deutsch, englisch, französisch, italienisch und noch in arabischen und chinesischen Lettern. Die Lehren vom Mehrwert und Klassenkampf sind die Dogmen der herrschenden Staatsreligion geworden. In ihrem Namen wurde der Spitzenbau der zaristischen, feudalen und bürgerlichen Gesellschaft abge- brochen und in eine weite proletarische Masse eingeebnet, in der es theoretisch keinen Klassenkampf mehr geben kann, weil es keine Klassen gibt. Aber dies ist das Tragische, das allem menschlichen Beginnen um so tiefer innewohnt, je gigantischer es ausholen möchte. Ich weiß nicht, ob Dostojewski seine Geschichte vom ,, Großinquisitor" nicht heute schon zeitgemäß ummodeln würde. Er könnte Karl Marx unter dem Volk er- scheinen lassen, das Volk würde ihm huldigen, aber der Groß- inquisitor würde ihm sagen: ,,Gehe, ich kann dich auf den Scheiterhaufen stellen und das gleiche Volk wird jauchzen. Gehe und komme nicht wieder, das Volk braucht deine Lehren nur so, wie wir sie anwenden." Gestern wollte es der Zufall, daß ich gerade an einer öffentlich aufgestellten Büste von Marx eine Prozession vorübergehen sah, die ein herrliches altes Heiligen- bild mit allen seinen Edelsteinen feierlich durch die Straßen trug, um es von einem Kranken wieder in seine Kirche zurück- zubringen. Den wirtschaftlichen Klassenbau konnte man zer- stören, aber geistig, religiös ist die Klassenbildung noch immer da und am Kampf der Gegensätze vielleicht schärfer geworden als je. Denn die orthodoxe Kirche, sonst an die Politik des Zaren gebunden, ist heute frei von staatlichen Banden, frei in 20 Der Friedhof der Bourgeoisie ihren Bewegungen. Auf den Kirchtürmen im Kreml glänzen noch die goldenen Adler, niemand hat sie heruntergeholt Die Sowjets stecken heute tief in den wirtschaftlichen Aufgaben, in den Notstandsarbeiten des Wiederaufbaus. Aber die Stunde wird kommen, wo sie den geistig-politischen Problemen gegen- überstehen werden. Es muß sich dann zeigen, ob in der heutigen Staatsreligion nicht auch eine Scheidung zwischen Raskolniki und den anderen die Empfindungen unüberbrückbarer Gegen- sätzlichkeit verewigen wird. Die Stunde ist jedenfalls schon da, in der der Marxismus aus Staatsreligion zur Staatsraison geworden ist. Die Welt aus den Begriffen aufbauen, die heutige Wirk- lichkeit in die Formen einer von wissenschaftlicher Phantasie ausgedachten Zukunft hineinpressen, war es das, was man hier versucht hat? War das der Sinn der bolschewistischen Revolution? Das Beginnen war nicht so kindisch, wenigstens nicht in den Köpfen der Führer. Die Bolschewiken, die sich rühmen, allein die wahre Erbschaft von Karl Marx zu besitzen, wissen, was ihr Prophet gepredigt hat. Sie wissen, daß er geschrieben hat: ,,Auch wenn eine Gesellschaft dem Natur- gesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren." Daneben steht freilich gleich der Satz; ,,Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern." Und dieser Satz, der die Warnung des ersten in den Wind schlägt, scheint das Unheil gestiftet zu haben. Man hat die Geburtswehen, aus denen die neue Gesellschaft, mindestens die neue Produktionsver- fassung hervorgehen sollte, abgekürzt: man hat die Mutter getötet. Eine Revolution ist keine planvoll auszuführende chirurgische Operation am Körper des Staates und der Gesellschaft. Sie hat etwas von einem Erdbeben. Ihre Stöße kommen unberechenbar, und ihre Wellen erschüttern wahllos alles, was der Boden trägt. Auch die Bolschewiken haben ihren Umsturz nicht geleitet, wie Der Friedhof der Bourgeoisie 21 man eine Lokomotive auf festem Geleise fährt, Ihre ersten Aktionen hatten Reaktionen bei ihren Gegnern zur Folge. Die Bewegung des Kampfes führte über die zuerst gesetzten Ziele hinaus, und es gab kein Zurück, solange der Kampf, der Bürger- krieg, dauerte. Die Besinnung kam, als die Waffen niedergelegt worden waren und die Not gebot. Wir sind heute in der Periode der Korrekturen, aber die Irrtümer haben ihre Wirkung getan, die leider nicht überall abzubauen ist. Und wie dem auch immer sei, geirrt und gesündigt wurde doch im Namen der Ideologie, die auf dem Boden der Marxschen Lehren aufblühte. Die dreißig- jährige theoretisch - kritische Arbeit der Sozialisten hat nicht vermocht, der am Kriegselend entzündeten revolutionären Leidenschaft die Blässe des Gedankens anzukränkeln. Die Harmonie des Marxschen Lehrgebäudes ging verloren. Die explosive Kraft des „Kommunistischen Manifests" brach sich nicht an den schweren Quadern des ,, Kapitals" oder an den Reflexionen des ,, Bürgerkriegs in Frankreich", die alle die Fehler der Pariser Kommune bloßgelegt hatten. Die Russen sehen in allem weit mehr den Klassenkampf als die Forderung einer langsamen Entwicklung, die unterdrückte Klasse stürzte sich auf die herrschende Klasse und vernichtete sie, ehe diese noch ihre wirtschaftliche Aufgabe voll erfüllt hatte. Nur langsam dringt man in das Elend der entthronten Bourgeoisie ein. Man erfährt von herzergreifenden Schicksalen. Sie erinnern in manchem daran, daß die gleiche Bourgeoisie vom alten Zarentum den schlimmsten politischen Verfolgungen aus- gesetzt war, und daß ihre wirtschaftliche Wohlfahrt ganz auf dem Verzicht auf politische Freiheit beruhte. Auch in anderen Ländern hat das Bürgertum dafür zu büßen, daß es zu lange seine Geschicke den Händen unkontrollierter selbständiger Regierungsgewalten überließ. Die Folgen waren nicht ganz so schwer und hart wie hier. Aber es erscheint doch wie tragische Schuld, der man eine geschichtliche Naturgesetzlichkeit nicht 22 Der Friedhof der Bourgeoisie absprechen kann, wenn die russische Bourgeoisie durch die soziale Revolution völlig zerrieben worden ist. Das eine haben die Kommunisten besorgt: das Rentenkapital und das Unter- nehmertum mit unbeschränktem Gewinn ist beseitigt. Ob beides in irgendeiner Form wiedererstehen wird, ist eine andere Frage. Aber heute, und darauf muß es im Augenblick ankommen, existiert die Bourgeoisie nur, soweit sie sich vom Verkauf ihrer Wertsachen ernähren kann. In der Umschichtung der Gesell- schaft, die in Rußland sich wie überall jetzt vollzieht, ist diese Klasse zerdrückt worden, durchaus nicht durch die planmäßige terroristische Vernichtung ihres persönlichen Lebens, sondern durch die Entziehung der früheren Existenzmöglichkeit. Das alte Bürgertum hat sich in den zahlreichsten Fällen in die neuen Umstände gefügt, indem es als unvermeidlich hinnahm, was der Slaatskommunismus als proletarische Forderung verwirklichte. Die Umschichtung der Gesellschaft hat aber auch neue Schichten heraufgebracht. Es gibt hier ,,nouveaux riches". Man nennt sie ,, Spekulanten". Im ganzen und großen sind sie das, was wir ,, Schieber" nennen. Solange das absolute Verbot des freien Handels bestand, trieben sie Schleichhandel. Heute, wo im Innern freier Geschäftsbetrieb unter besonderen Vorschriften möglich ist, haben sie sich auf die Spekulation geworfen, das heißt, sie kaufen Waren, um sie teurer zu verkaufen, wobei ihr Gewinn nicht durch Höchstpreise beengt wird. Das Straf- recht der Volksgerichte nimmt schon die Spekulation im Marxschen Sinne als etwas prinzipiell Unerlaubtes und damit als Wucher an. Aber es geht selbstverständlich auf die Dauer nicht, gesunde kaufmännische Prinzipien zu bekämpfen, wenn man den freien Handel zuläßt. Wie dem auch sei: zweifellos bilden sich hier bereits neue Vermögen, die vielleicht zudem meistens nicht in Papier des Sowjetrubels, sondern in Real- werten angelegt werden. Der Ausverkauf der hungernden Der Friedhof der Bourgeoisie 23 Bourgeoisie gibt Gelegenheit genug dazu, obwohl gerade das geeignetste Spekulationsobjekt, der private Grundbesitz, noch gesetzlich unzugänglich gemacht ist. Es ist der Friedhof der alten Bourgeoisie, in dem man hier umhervvandelt. Ein Erlebnis: vor kurzem kam ich in ein früheres Bürgerhaus, in dem eine russische Behörde eingerichtet ist. Die alten Möbel waren weg, aber an den Wänden sah man noch den goldstrotzenden Luxus dieser ,,Burschui". In einem tadellos marmornen Badezimmer lagen und standen auf den Konsolen des Waschtisches die schwer versilberten Stücke einer Toilettegarnitur für weiblichen Gebrauch. Nebenan ging ein Wendeltreppchen in ein Kellergemach, in dem Mutter und Tochter wohnten und schliefen. Im besetzten rheinischen Ge- biet kommt es auch vor, daß eine Villa von den Militärs requiriert und die alte Besitzerin in ein Dachstübchen relegiert wird. Hier war es der Keller. Einige Tage später lernte ich auf einer Abendgesellschaft, die bescheiden genug war, jene Mutter und Tochter kennen. Das Töchterchen trug ein weißes Abendkleid, vielleicht war der Brillantenschmuck gegen früher mäßiger geworden. Und als ein Herr sich ans Klavier setzte, da ging die junge Dame auf einen anderen Herrn zu, nahm ihn beim Arme und das Tanzen wollte kein Ende nehmen. Ver- zweiflung, Stoizismus, ,,Nitschewo", leichtfertige Lebenslust oder unbezwingbare Lebenskraft? Ich bin nicht klug daraus geworden. Ich weiß von anderen, die ihr Unglück bis ins Innerste ergriffen, geschüttelt und umgewandelt hat. Sie sitzen jetzt in ihren Wohnungen ohne Vorhänge, mit verklebten Fenster- scheiben, mit zerbrochenen hygienischen Einrichtungen bei einem Backsteinofen, den sie sich ins Zimmer gebaut haben. Der Verfall ist kein Trost dafür, daß sie keine Miete und keine Elektrizität zu bezahlen brauchen. Da ist aus der Verzweiflung 24 Der Friedhof der Bourgeoisie nur dumpfer Groll geworden, aber ein Groll, der wie die Lebenslust sich nicht zu Taten aufrafft. Aber es gibt noch andere dieser ,,Burschui", die über Verzweiflung und Groll die Geduld nicht verloren haben, Sie arbeiten im Dienst der Re- gierung. Sie ,, kumulieren", der Mann bekleidet zwei oder drei Posten und erhält dafür zwei oder drei Anteile an den Lebens- mittelrationen, vielleicht noch mehr. Ich hatte eine instinktive Abneigung gegen den ,,Smo- lenski Rinok", von dem alle Welt dreimal im Tage lang und breit redet. Es ist der Markt, auf dem neben vielem Kleinkram die kostbare und armselige Habe der Bourgeoisie ausgeboten wird. Vielleicht ist das Beste schon weggekauft- Wer etwas Gutes finden will, muß Glück haben und, offen gestanden, wer da heute Stoff für eine sentimentale Reportage zu finden sucht, der kommt nicht auf seine Rechnung, Das mag möglich gewesen sein, als der Markt noch eine ungesetzlich-tolerierte Existenz gehabt hat. Man kann allerdings immer noch eine russische Bäuerin mit einer Dame, deren Leidensgeschichte auf ihrem Gesicht zu lesen ist, um eine ewige Lampe aus dem reichen Bürgerhaus feilschen sehen und darin auch ein Symbol für die Vermögensumschichtung in Rußland erblicken. Jetzt zahlt jeder Händler Steuern, und die kostbareren Stücke, Porzellan, Pelze, Bilder wandern in die offenen Geschäfte, die sie in Kommission zum Verkauf halten. Den selbst feilbietenden Bourgeois sieht man nicht mehr, dafür allerdings Aermere, die sich die Kom- mission selbst verdienen wollen. Aber es muß immer die Aus- nahmen geben, die die Regel bestätigen. Am Arbat sehe ich seit Wochen einen alten Herrn sitzen, im feinen Pelzmantel, die hohe Pelzmütze bis an die goldene Brille über die Stirn gezogen, die Füße in pelzgefütterten Filzschuhen. Jede Geste atmet Vornehmheit, Er sitzt auf dem Eckstein eines Toreingangs, auf seinem Schoß liegen Zigaretten und Streichhölzer, die er stumm Der Friedhof der Bourgeoisie 25 den Vorübergehenden anbietet. Ob er mit diesem Kleinhandel so viel verdient, daß er seinen wertvollen Pelzmantel nicht zu opfern braucht? Es gibt frühere Fabrikanten, die ihre Fabrik unter dem kommunistischen System zuerst als Staatsbeamte leiteten, Sie übernehmen sie jetzt, nachdem die neuen Gesetze erlassen sind, als Pächter. Sie können dazu Geldvorschüsse vom Staat be- kommen. Ein wunderlicher Kreislauf vom Himmel durchs Inferno zur Erde und in eine Zukunft, die alles versprechen, erfüllen und nicht erfüllen kann. 2b Der Garten des Proletariats Der Garten des Proletariats. Der Garten des Proletariats: Wie soll man es sonst nennen? Ein Paradies war das kommunistische Rußland keinen Augen- blick lang gewesen. Die schönen Palmen stießen ihre Wurzeln in ein steiniges Erdreich. Die Oktoberrevolution der Bolsche- wiken schoß aus einem vom Krieg zerrütteten Staat, aus einem von Friedenssehnsucht durchfieberten Volk hervor. Daß aus dieser Wüste, die zum Friedhoi der Bourgeoisie geworden war, keine wunderbare Oase aufblühen konnte, sondern nur die Luftspiegelung eines fernem gelobten Landes, das wußten die Ueberlegenen von Anfang an. Aber es galt auch da, was die Franzosen sagen: Ich bin ihr Führer, also folge ich ihnen. Am Pretschistenkii Boulevard ist auf einer Mauer ein primitiv modelliertes Relief zu sehen. Es stammt offenbar aus den ersten Monaten der kommunistischen Wirtschaftsrevolution- Es stellt eine Arbeiterfamilie bei der Mahlzeit vor, bei einer sehr einfachen Mahlzeit. Auf dem oberen und unteren Rande trägt es die Inschrift: ,,Wer nicht arbeitet, soll nicht essen." Dieses allzu einfache Prinzip, das auch wörtlich in die Verfassung der Räterepublik übergegangen ist, das nur den von Renten leben- den Bourgeois treffen sollte, ist als meuchlerisches Geschoß zurückgeprallt auf den Arbeiter, oder wie man es hier lieber nennt, den ,, Arbeitenden". Das Arbeitsbuch, das jeder haben mußte, wenn er in legaler Weise essen wollte, das sozusagen den Berechtigungsschein aufs Dasein darstellte, gab allein noch kein Brot. Wir wissen das von unseren deutschen Lebens- mittelkarten, die man auch mit den erlesensten Kochrezepten Der Garten des Proletariats 27 nicht schmackhaft zubereiten konnte, wenn sie nicht beliefert wurden. Das Sprüchlein galt nun umgekehrt. Die Zeiten kamen, wo nicht viel gearbeitet wurde, weil nicht viel gegessen wurde, weder auf den Feldern, noch in den Fabriken. Und man aß vielleicht nicht einmal im Verhältnis zu dem bißchen Arbeit. Darf man für die zurückgegangenen Ernten der Bauern und ihre damit sinkende Liebe zur Zwangsablieferung des Getreides die Staatsdoktrin des Marxismus allein verantwortlich machen? Die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, oder der bloße Patrio- tismus und der staatsbürgerliche Opfersinn, die sonstwo der menschlichen Gesellschaft den Atem geben sollten, haben auf dem Brachfelde der Kriegswirtschaft ebenfalls keine Wunder vollbracht. Das russische Arbeiterevangelium, das nur den Mühseligen des Leibes Nahrung versprach, gab in seiner Nüch- ternheit keinen täuschenden Hoffnungen Raum. Es leuchtete darin kein Strahl von tausendjährigem Reich, das unmittelbar vor den Toren läge. Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Nicht einmal vom inneren Glück der Arbeit ist da die Rede, von der Befreiung der Seele von ihren eigenen Lasten. Man sieht aus dem Chaos steuernd eine große Frage vor den Augen aufsteigen: Ist das das russische Volk? Wir stellten es uns vor, wie Tolstoi und Dostojewski es gezeichnet hatten, voll von einer Empfindsamkeit, die aus den einfachsten alltäglichen Dingen erschütternde Angelegenheiten eines sensitiven Gewissens machte. Der Russe erschien uns kinderhaft heiter und von ganzer Seele schwärmerisch zugleich. Und nun kommt dieses Symbol, das nur die derbe Mundart des Magens kennt und spricht. Haben die Riesen der russischen Literatur nicht gesehen, daß sie Zwerge von Menschlichkeit um sich hatten? Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Der geschichtsphilo- sophische Materialismus war in diese Umlaufsmünze geprägt worden. Das war wohl das Unglück wie bei jeder Münze, die ohne eigenen Goldwert nur durch Zwangskurs Geltung erhält. 28 Der Garten des Proletariats Diese Sozialisten und Kommunisten dachten viel mehr an die Verteilung der Güter als an die Erzeugung, Sie nahmen zunächst, was da war, die Wohnungen der Reichen, die ebenso nationalisiert wurden wie die Mietskasernen- Nun sitzen sie — nicht alle — in den Häusern mit der überladenen Pracht, mit den Marmorwänden und den Türverkleidungen aus kostbarer karelischer Birke, Aber auch da darf keine falsche Vorstellung entstehen. Ein Wohnungsamt mit diktatorischer Gewalt ent- schied, ach, und es gab auch da jene merkwürdigen Visionen von schemenhaften Zwangsmietern, die anscheinend nur als eine westeuropäische Spezies auf dem Boden der weltum- spannenden Wohnungsnot gediehen. Vor kurzem war ich bei einem guten Bürger, der für drei Personen noch fünf Zimmer und Zubehör behalten hatte. Während wir bei Tisch saßen — bei einer ausgezeichneten Hammelskeule und einer Flasclie Rüdesheimer — kam die Wohnungskommission in Gestalt von zwei jungen Burschen, die den Ernst ihres Auftrages durch die Formlosigkeit ihres Auftretens bekräftigten. Sie zogen schöne Vordrucke hervor, stellten die eingehendsten Fragen und trugen die Antworten umständlich in die zuständigen Rubriken ein. Dann schritt einer, die Zigarette im Munde wie beim Fragen und Schreiben, die Zimmer in Länge und Breite ab. Aber er rechnete dann die Flächeninhalte ohne die hier unvermeidliche Rechenmaschine aus. Das Resultat war Aberkennung von zwei Zimmern, und einer der neuen Zwangsmieter war schon während der amtlichen Prozedur erschienen, ein netter junger Mann, den die Bürgersleute mit Vergnügen nahmen, weil sie nicht wußten, ob nicht an seiner Stelle ein viel weniger netter ver- ordnet würde. Und vielleicht kannten sie ihn vorher schon. Nichts Neues unter der Sonne, auch in Moskau nicht. Es ging nicht immer so verhältnismäßig gemütlich zu. Längst nicht alle der üppigen, weitläufigen Adels- und Bürger- paläste wurden Arbeiterwohnungen. In vielen Häusern, Der Garten des Proletariats 29 besonders jenen der Geflohenen, wurden Behörden eingerichtet. Die Sowjet-Republik, die alle Regierungszentralen nach Moskau verlegte, brauchte unzählige Räume für sich und die noch weniger zählbaren lokalen Sowjets aller Art. Aber auch da, wo die Proletarier in die Paläste kamen, da war die Glück- seligkeit nicht ekstatisch. Auch da wurde der Kubikraum nach der Personenzahl verrechnet, und es war kaum ein ausreichen- der Trost, daß der „Burschui" im Keller hauste. Und dann kam die Not der Bürgerkriegsjahre, in denen alles wegrequiriert wurde, was die kämpfende ,,Rote Armee" nicht entbehren konnte. Denn auch sie konnte den guten Willen der Soldaten nicht mit dem Orden des Sowjet-Sterns allein belohnen. Die Not trieb weiter auf der schiefen Bahn. Die Arbeiterfrau machte sich ein Kleid aus den schönen Vorhängen oder den seidenen Tapeten. Und da nichts mehr unterhalten wurde, fing das ganze Haus an, innerlich und äußerlich den Weg alles Irdischen einzu- schlagen. Das war sehr schlimm, wenn es sich um die Kanali- sationseinrichtungen handelte. Wenn die Wasserleitung nicht mehr richtig funktionierte, dann hatten die Messinghähne an den Badewannen auch keinen Zweck mehr und sie wanderten auf den Markt oder in den Schleichhandel, Mit allen diesen Nebenprodukten der Nationalisierung der Häuser wohnte der Proletarier freilich immer noch besser als früher. Aber jetzt, nachdem die Praxis alle Schattenseiten der Theorie hell be-. leuchtet hat, gewinnt die Ueberzeugung Raum, daß eine gute Arbeiterwohnung doch besser ist als ein nationalisierter Protzen- palast mit unbenutzbaren Unentbehrlichkeiten. Und das russische Volk, so reich an Sprüchen der Lebensweisheit, hat die neue Situation auch bereits recht plastisch charakterisiert: der Proletarier fühlt heute aus den schwellenden Polstern nur noch die harten Drahtfedern heraus. Der volkstümliche Aus- druck ist viel realistischer und malerischer als diese Abstraktion im Schriftdeutsch, Der Garten des Proletariats Die Entwicklung geht weiter. Bis jetzt hat kein Mensch Miete bezahlt, sie war wie jede Kapitalrente abgeschafft. Aber auch sie kommt wieder. Nur wer in Staatsdiensten steht oder Invalide ist, soll noch umsonst wohnen. Die übrigen müssen mit der Hausverwaltung, die sie wählen, die Kosten für die Instandhaltung aufbringen. Das macht für ein bescheidenes Zimmer in Moskau ungefähr hundertfünfzigtausend Rubel im Monat. Der Mut, ganze Häuser vom Staat in Pacht zu über- nehmen, wächst angesichts der auferlegten Unterhaltungskosten nur langsam. Man will nicht nur wohnen, man will auch warm wohnen im Winter. Daß niemand vor Hitze schmolz, das sieht man den Backsteinöfchen an, die in die Zimmer eingebaut wurden und zu denen man die Steine von einem verfallenden Haus in der Nachbarschaft holte. Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Es war nicht leicht, zu essen, wenn man arbeitete. Man lernte mit russischer Geduld ,, Reihen stehen" an den Lebensmittelsteilen. Das war sogar nicht zu umgehen, wenn man den zahlreichen ,, Kooperativen", den Konsumgenossenschaften angehörte. Aber das sind nun bald Dinge der Erinnerung an die heroische Vergangenheit. Die Freigabe des Kleinhandels und der Uebergang zum neuen Geldlohn, der sich unter der unheimlichen Gewalt eines ehernen sozialen und wirtschaftlichen Gesetzes vollzieht, haben den Kampf mit den angeborenen Gebrechen der reinen Naturalwirt- schaft überflüssig gemacht. Nun muß auch dafür ein Preis gezahlt werden. Der Kampf um ,, ausreichende" Löhne ist im Anzug. Ein Teil des Proletariats hat ein restloses Glück gehabt, die Kinder. In Moskau sieht man auf Schritt und Tritt große Häuser mit Aufschriften, die anzeigen, daß da irgend eine Kin- derversorgungsanstalt untergebracht ist. ,, Kinderwelt" heißt es am häufigsten, und man ist, da die Russen für Friede (mür) und Welt (mir) nur ein gleichlautendes Wort haben, seit der Ein- führung der neuen Orthographie im Zweifel, ob man nicht Der Garten des Proletariats 31 Kinderfriede übersetzen soll. Das wäre auch noch ein schöner Name für eine schöne Sache. Ein solches Kinderheim kann ein Paradies für die Kleinen sein, wenn die Wärterinnen es wollen. Sie wollen es wohl in den meisten Fällen. Was ich davon gesehen habe — keineswegs Paradeanstalten, die offiziell dem Fremden gezeigt werden — waren rührende Beispiele der Auf- opferung im Dienste. Den fetten runden Würmchen fehlt es an nichts, jedenfalls nichts von dem, was die Proletarierfamilie überhaupt nicht aufbringen könnte. Der einzige Mißton in diesem Glücke ist, daß es auch nur Wenigen von den unendlich Vielen zu teil wird. Draußen auf den Straßen sieht man hin und wieder die arme Frau mit dem Kinde an der Brust, während sie irgend etwas zum Verkaufe feilhält. In einer verlassenen bürgerlichen Villa draußen in einem Park hat ein junger Arzt ein Heim für tuberkulöse Kinder ein- gerichtet. Der Staat bestreitet die Kosten, nicht allzu ver- schwenderisch in Anbetracht der allgemeinen Geldnot, die durch die Flut von Papier nicht gemildert wird. Da liegen die sieben-, zehnjährigen Arbeiterkinder, in schönen Lazarettbett- chen, Schwestern sind um sie, der Arzt kennt jeden der vierzig Pfleglinge so genau, daß die individuellste Behandlung möglich ist. Die Armen leiden alle an Knochentuberkulose und, wie es scheint, wurden in vielen Fällen Besserungen erzielt. Ich kann das nicht beurteilen. Mich mußte das Ganze mehr vom Stand- punkte der sozialen Fürsorge interessieren. Und da ist ge- schehen, was die Liebe eines Arztes zu seinem Beruf vermag. Allerdings fehlt ihm manches an Hilfsmitteln, die ausländische Fachliteratur, die ihn über den neuesten Stand der wissen- schaftlichen Forschung unterrichtet, vor allem aber ein Röntgen- Apparat, Wer kann ihm dazu verhelfen? Denn solange die offizielle Einfuhr solcher Instrumente nicht im großen betrieben werden kann, wird das Kinderhospital kaum unter den ersten Anwärtern figurieren können. 32 Der Garten des Proletariats Ein Sonntag-Nachmittag bei Kindern, die infolge körper- licher Gebrechen geistig zurückgeblieben sind, draußen im östlichen Moskau, Die Aerzte sind von der gleichen Aufopferung an ihre Aufgabe beseelt, rein menschlich und wissenschaftlich. Man fühlt das sofort heraus. Denn ein Vergnügen kann es nicht sein, unter wenig glänzenden äußeren Einrichtungen das Unter- nehmen zu führen. Es ist eines von vielen. Auf rein medizinische Behandlung wird verzichtet. Die Kinder werden vom Geiste aus kuriert, rein erzieherisch mit sorgfältigstem Eingehen auf die Individualität, Die Aerzte, die ebenfalls ums Leben gerne wüßten, was auf ihrem Spezialgebiete jetzt in Deutschland geleistet wird, sprechen von guten Erfolgen, Ihre Methode ist; möglichste Freiheit für die defekte Seele, Wir sahen eine Auf- führung des ,, Aschenbrödels", die die Kinder ganz aus eigenen Kräften aufgebracht hatten. Vor einiger Zeit hatten sie in der Großen Oper eine solche Kinder-Vorstellung gesehen, und nun ahmten sie nach, so gut es ging. Geistig völlig Gesunde hätten es nicht besser machen können. Wir erzählen den Aerzten, daß in Deutschland infolge der Unterernährung während des Krieges unsere heranwachsende Jugend sehr zurückgeblieben ist, körperlich gebrechlich vielfach und darum auch geistig nicht auf der normalen Höhe. Solche Fälle haben sie kaum. Bei ihren Geneslingen handelt es sich meistens um vererbte Anlagen. Das sind die Blumenbeete aus dem Garten, in dem das russische Proletariat schwer arbeitet. Theater in Moskau 33 Theater in Moskau. Moskau spielt jeden Abend auf allen Bühnen, die es früher besaß, und noch auf einigen mehr, Vereinsbühnen, ,, Studios", das heißt Lehrwerkstätten für Schauspielkunst, Propaganda- stücke, wo man hinblickt. Der ,, Proletkult", jenes in ein tausend- fältiges Filigranwerk verästelte System planmäßiger Volks- bildung, die der kommunistische Staat für eine seiner wichtigsten Aufgaben hält, hat sich mit großer Liebe auch dem Theater zugewandt. Gewiß, der Geist einer Zeit, der sich offenbaren will, steigt immer auf die Bretter. Sie sind die besten Redner- bühnen für die eindringliche Verkündung neuer Ideen. Aber es muß auch Kunst sein, die geboten wird, sonst ist alles verlorene Liebesmühe, Nichts ist innerlich wirkungsloser als ein glattes Tendenzstück. Das haben die eifrigen Propheten der proleta- rischen Kunst wohl begriffen, als sie sich bemühten, auch aus dem Schema der alten Stückemacherei herauszutreten. Sie waren vielleicht nur zu ungeduldig und schütteten das Kind mit dem Bade aus. Erpressen läßt eine ästhetische Entwicklung sich nicht. Man kann auf alle Tradition verzichten und wie die Futuristen mit einem neuen Nullpunkt anfangen. Aber es war nun doch immer so, daß die Treibhäuser nur sehr vergängliche Blüten erzeugten. In der Wärme der revolutionären Stimmungen sind hier viele künstlerische Triebe emporgeschossen. Aber das ist das Merkwürdige, in dem von der Welt abgeschlossenen Moskau haben sich im großen und ganzen Pflänzchen ent- wickelt, die auch im Westen gediehen. Da bei uns die Debatte 3 34 Theater in Moskau über Futurismus, Imaginismus, Expressionismus erledigt ist, soll sie hier nicht neu aufgenommen werden. Man kann auch nicht einmal sagen, daß sie hier ganz besondere russische Färbung angenommen hätte. Die Auseinandersetzungen über jedes Theoriechen sind genau so heftig wie bei uns, und ein Abend im ,,Cafe Pegasus", einem Kabarett in der Twerskaja, trägt das Pariser Urmuster in sich wie die Kabaretts im übrigen Europa. Ich möchte darum nicht in den Irrtum verfallen, alles literarisch Exzentrische, das man in Rußland erlebt, für eine Frucht aus dem Garten des Kommunismus zu halten. Das meiste ist nur die russische Abart des Westens ohne wesentliche Verschieden- heiten. Am Ende ist auch der ,, Proletkult" nichts anderes als eine Verstaatlichung des freien Volksbildungswesens bei uns, das ja auch manche Uebereilung gezeitigt hat. Und es sind längst nicht alle Mächtigen hier der Meinung, die krampfhafte Organisation des Proletkults sei eine absolut unerläßliche Staatsangelegenheit. Nur eines ist eigene russische Schöpfung, das kollektive Theater, kollektiv in Dichtung und Ausführung. Wie es scheint, sind die stärksten Impulse dieser Bewegung schon ermattet. Was sie wollte, zeigt eine Schilderung Kerschenzews aus dem vorigen Jahre: „Von Arbeitern, von denen der größte Teil noch niemals ein richtiges Theater besucht hatte, war durch kollektive Be- mühungen ein Stück aus der Revolutionszeit geschaffen worden. In einer Szene dieses Stückes versuchen die Arbeiter die Wand zu zerstören, die die alte Welt symbolisiert. Als die Schau- spieler auf der Bühne sich mit Zornesrufen auf die Wand stürzten, erhoben sich ganz instinktiv alle Zuschauer wie ein Mann, um beim Kampfe zu helfen. Als die Wand einstürzte und die sieghaften Töne der Internationale ertönten, stimmte auch der ganze Zuschauerraum mit ein." Theater in Moskau 35 Es ist bekannt, daß in Petersburg bei den ersten Jahres- feiern der Revolution der Sturm aufs Winterpalais in einer großen Aufführung an Ort und Stelle plastisch wiederholt wurde. Jetzt hat man auf solche Riesenfilme verzichtet. Aber auch jene kollektive Kunst kleineren Maßstabes, von der Kerschenzew spricht, scheint mehr sporadisch aufgetreten zu sein. In den Provinzstädten gibt es noch ,, Studienwerkstätten", in denen ohne Mithilfe von Schauspielern das ,, improvisierte Theater" gepflegt wird. Man mag dabei an die entzückenden Sachen der russischen Hausindustrie denken, Holzschnitzereien, Spitzen- klöppelei, die auch aus dem Bauernwerk hervorgegangen sind und eine außerordentliche künstlerische Veranlagung des russischen Volkes offenbaren. Warum sollten diese Talente auf dem Theater grundsätzlich versagen? Die Frage scheint aber schon entschieden zu sein. Vor zwei Jahren schon war auf einem Kongreß der Arbeiter- und Bauerntheater die Stellung zum alten bürgerlichen Theater leidenschaftlich diskutiert worden. Die Mehrheit meinte, man solle das alte Theater nicht verurteilen, im Gegenteil, da man dadurch nicht behindert sei, auch das neue Theater zu kultivieren. Es gibt Leute genug, die bedauern, daß die schönen An- fänge einer aus der Revolution emporwachsenden Massenkunst schon ermüdet dahinsinken. Ich habe diesen Erscheinungen nicht im einzelnen nachgehen können. Es gehört auch schon eine vollkommene Kenntnis der Sprache dazu, wollte man sich das Bild aus allen seinen kleinen Zügen zusammensetzen. In einer der neuen Theaterwochenschriften, die man in den Kiosken kaufen kann, las ich einen Aufsatz, der sich eingehend mit dem Problem des ,, mystischen Realismus" und der ,, Improvisation" befaßt. Er meint, die Sprache führe notwendig zur Rhetorik, die Inszenierung zum Film und das Ganze zum Dilettantismus. Diese Versuche haben vielleicht — bis jetzt 3* 36 Theater in Moskau wenigstens — mehr soziologisches als künstlerisches Interesse. Sie zeigen, wie intensiv die Russen an ihren Erlebnissen hängen, wie bei ihnen auch alles danach drängt, sich künstlerisch und dogmatisch damit auseinanderzusetzen. Das ist der erste nationale Zug darin. Die Russen, die in ihrer Sprache die charakteristische Wendung haben, ,,es denkt sich mir", waren immer stark in der Abstraktion, in der Aufstellung von Theorien. Noch größere Meister sind sie dann in der Bedenken- losigkeit, mit der sie zur Verwirklichung schreiten, Sie sagen auch: ,,es will sich mir". Aus diesen Tiefen des Unterbewußt- seins kommt bei ihnen der künstlerische Trieb, über den sie dann allerdings auch so abstrakt zu diskutieren verstehen. Wo aber liegt nun die wirkliche Bewegung? Auf diesen neuen Wegen, oder kommt die Entwicklung aus den alten Kulturzusammenhängen, an denen die wirtschaftliche und soziale Revolution nichts ändern konnte? Ihre Gesetze sind mächtiger als alles von theoretisierender Phantasie ausgehende Regieren, Was man tun kann, ist darum, immer wieder das nächstliegende Wirkliche zu suchen. So bin ich hier ins Theater gegangen, unbefangen, als ob ich nichts wüßte von der systematischen Programmhaftigkeit, die in vieles Selbstverständliche hinein- geschmuggelt wurde. Auch die Theater leiden hier unter der allgemeinen Not. Sie können nicht alles aufführen, was sie möchten, die Staats- theater nicht besser als die privaten. Sie greifen ins alte Repertoire und in den alten Dekorationsspeicher. Man sieht auf dem Wochenzettel Shakespeare, Gogol, Heyermans, Bernard Shaw, Oskar Wilde, Scribe, Gorki, Maeterlinck, Andrejew, Francis de Croisset . , , Also genau wie es war, man findet auch die preiswuchernden Billetthändler an den Pforten der täglich ausverkauften Häuser, deren beste Plätze fünfzigtausend Rubel an der Kasse kosten. Theater in Moskau 37 Stanislawski, der Gründer des Moskauer Künstlertheaters, leitet sein verstaatlichtes Theater noch immer als künstlerischer Direktor- Seine wertvollen Kräfte sind ihm im Laufe des Bürgerkrieges ins Ausland abhanden gekommen. Aber er weiß viel aus dem zu machen, was er hat, aus dem Nachwuchs. Er hat jetzt einen jungen Charakterdarsteller, wenn man es so nennen darf, Tschechow, der einen Revisor ohnegleichen spielt, Stanislawski hat mir erzählt, daß er den Naturalismus und den Realismus auf dem Theater für überwunden hält. Er war einst dessen Prophet. Aber er lehnt jeden Futurismus oder Expressionismus ab, der auf kleineren Bühnen hier sein Wesen treibt. Was er heute bietet, geht ganz natürlich aus dem älteren Stile hervor, ein Realismus mit künstlerischer Phantasie durch- setzt. Das gibt der Individualität der Darsteller Spielraum. Die Aufführung des Gogolschen ,, Revisor" wurde leicht aufs Groteske eingestellt. Der Geist des Stückes fordert das von selbst. Nicht alle Mitspieler hielten die feine Nuance ein, die aus der Satire keine Karikatur macht. Aber Stanislawski ist ein glänzender Regisseur, der den Gesamtton zum Durchklingen .bringt. Er bedauerte, daß er nicht auch die Dekorationen — aus Mangel an Material — auf den leicht grotesken Grundzug ab- stimmen konnte und sich mit einer zeitgemäßen russischen Biedermeier-Ausstattung begnügen mußte. Aber das ist neben- sächlich gegenüber der feinen spielerischen Ausarbeitung der Darstellung. Der junge Tschechow gab den Revisor in dem etwas mangelnden geistigen Gleichgewicht der Gogolschen Figur. Diese Mischung zwischen Naturalismus und dem, was die Franzosen mit ihrem unübersetzbaren Worte ,,fantaisiste" meinen, war hier vollkommen gelungen. Ich habe den gleichen Künstler auch als Malvolio in Shakespeares ,,Twelfthnight" ge- sehen, einer Rolle, die zur Charge herausfordert, aber bei jedem Uebergriff auch völlig mißraten kann. Tschechov/ fand da die 38 Theater in Moskau Schattierungen einer seelischen Schüchternheit und eitlen Selbst- sicherheit, die alle Komik des Malvolio als etwas einfach Natür- liches erscheinen lassen, Stanislawski leitet auch die „Studios", die Schauspiel- schule, die mit ihren drei Klassen vors Publikum tritt. Der Zugang soll jedem Talent gestattet sein. Der frühe Kontakt mit dem Zuschauer scheint sehr erzieherisch zu wirken, kann aber freilich aus einem Unbegabten keinen Begabten machen. Aber diese jungen Truppen haben alle einen Zug künstlerischer Andacht, der sie stets interessant macht. Es ist etwas von der russischen Kunstreligiosität darin, der ihrem Tanz und Ballett das Bezwingende gibt. In den ,, Kammerspielen" begegnet man einer leicht stilisierten Darstellung, die wir auch in Deutschland haben. Die Szenerie arbeitet meistens mit Vorhängen, die hin und v/ieder durch etwas Ornament eine charakterisierende Note erhalten. Mir scheint, die Stilisierung des Spiels ist da schon vom Extrem zur ruhigen Mitte zurückgekehrt, die bald wieder ins ganz natürlich Bewegte übergehen dürfte. Die Kammerspiele geben Pantomimen mit dem russischen Sinn für die Bewegung und Gruppierungen, den die russischen Balletts in der ganzen Welt bekannt gemacht haben. Frau Konen, die erste weibliche Kraft, aus Stanislawskis Künstlertheater kommend, spielt aber auch eine Shakespearesche Julia oder Wildes Salome mit aller inneren Glut und allem Raffinement, die diese Rollen fordern, und sie bewahrt dabei eine Diskretion des Spiels, die jede Geschmacklosigkeit vermeidet. Das ist das Interessanteste im Moskauer Theaterleben, Opern gibt man auf drei Bühnen, im ,, Großen Theater" und in zwei anderen Häusern, und das Repertoire reicht von Tschaikowskis ,, Pique-Dame" und ,,Onegin" bis zu Mussorgskis , .Boris Godunow" und seiner vielleicht noch echter russischen Theater in Moskau 39 „Chowantschtschina". Die Große Oper widmet sich stark dem Ballett. Die beste Solistin ist die Geltzer, die noch mit dem Gazeröckchen tanzt. Die Größen des russischen Balletts sind im Auslande. Aber man sieht hier, daß die Größen und die im Westen gezeigten ausgewählten Truppen gar nicht so unge- heuer über das Mittelmaß hinausragen, das hier das Normale ist. Das Ballettkorps der Oper hat eine Schulung und Sicherheit, die nie besser gewesen sein konnten, und das kann oft genug lür die Abwesenheit der Sterne entschädigen. 40 Das Recht auf Kunst Das Recht auf Kunst. Die bolschewistische Revolution stand im Rufe, der amt- liche Protektor des Futurismus, Kubismus, Expressionismus zu sein. Gewiß, die ersten künstlerischen Begleiterscheinungen des proletarischen Sieges haben sich in den modernsten Ausdrucks- formen bewegt. Ist nicht überall die ganze neuere Bestrebung der bildenden Kunst, dem Volk verständlich zu werden, zu jener möglichst vereinfachten Darstellung gelangt, die man gern als Arbeiterkunst ansieht? Man kann für Sowjetrußland nur das sagen, was in dieser Beziehung für jede Revolution gilt: sie konnte aus sich keine neue Kunst aus dem Boden stampfen, Kunst ist immer und überall etwas, was sich nur organisch bilden kann, was sich langsam aus der Vergangenheit oder als Antithese dazu entwickelt. Die verbindenden Fäden sind nie zu entbehren, Expressionismus oder Kubismus mit dem Bolschewismus zu identifizieren, ist also etwas naiv. In der Tat, warum sollten die Revolutionäre, die ihr Leben lang im Studium des Marxismus versunken waren und für ästhetische Nebenbeschäftigung wenig Zeit übrig hatten, warum sollten diese an gute alte hausbackene Malerei ge- wohnten Leute plötzlich für das Mfodernste schwärmen? Es kam vielen von ihnen genau so fremd und unverständlich vor wie dem ersten besten Spießbürger, Man erzählt, daß in Moskau ein hoher Regierungsbeamter einen Künstler verhaften lassen wollte, der eine expressionistische Büste von Karl Marx ver- brochen hatte. Der Geschmack dieser ,,Towarischtschi" ist eher akademisch in schlimmstem Sinne, Man sehe sich das offizielle Denkmal an, das auf dem Twerskaja - Platz in Moskau zur Das Recht auf Kunst 41 Erinnerung an die Oktoberrevolution errichtet wurde. Dieser Obelisk, auf einem banalen Unterbau sich erhebend, könnte eine Preisarbeit aus irgendeiner westlichen Provinzakademie sein. Vom künstlerischen Standpunkt aus hatte dieses Revolutionsdenkmal kein Recht, die Statue des Generals Skobelew zu verdrängen, die vor ihm auf dem Platz gestanden hatte. Etwas ähnliches erlebt man in der Galerie Tretjakow, der größten Gemäldegalerie Moskaus, die doch auch dem Staate der Bolschewiken untersteht. In dieser großartigen Sammlung russischer Malerei des verflossenen Jahrhunderts ist es den Jüngsten nur nach fürchterlichen Kämpfen gelungen, einen be- scheidenen Saal zu erobern. Und Lunartscharski, der Unter- richtsminister, eröffnet die Kunstausstellungen so akademischer älterer Meister wie Karowins in eigener Person, Ich erzähle das, nicht um die Bolschewiken gegen den Vor- vjuri einer künstlerischen Barbarei in Schutz zu nehmen, der ihnen von draußen entgegen geschleudert wurde. Es ist die Wahrheit. Richtig ist, daß die russische Revolution mit ihrem proletarischen Pulsschlag auch die auf proletarische Phantasie eingestellte Kunst begünstigen mußte. Nur ist diese Kunst, wie schon oben gesagt, keineswegs eine Erfindung ad hoc oder ein im Submissionsweg vergebener Staatsauftrag. Sie ist nichts anderes, als was in den westlichen Ländern sich auch in den Dienst der Volksbildung stellt. Mit ihrer großzügigen Freigebigkeit hat die revolutionäre Regierung aber alles geschenkt. Sie proklamierte das Recht des Volkes auf Kunst. Sie gab den Besuch aller Museen frei. Und sie griff aus diesem Naturrechtsempfinden auch in den Privat- besitz ein. Die großen privaten Sammlungen wurden zu Staats- museen gemacht. Nebenbei sei bemerkt, daß das vielleicht das beste Mittel war, diese Schätze aus den Revolutionsstürmen zu retten. So hat Moskau heute die schönsten Galerien moderner westlicher Malerei, die in Europa zu finden sind, die Samm- 42 Das Recht auf Kunst lungenSchtschugin undMorosoff. Beide sind Jetzt alsStaatsmuseen jedermann zugänglich. Das meiste ist Pariser Malerei, so voll- ständig, daß man die Periode 1890 bis 1914 anderswo kaum besser vertreten findet. Der etwas primitiv wahllose Eifer, mit dem die russischen Sammler das , .Modernste" zusammengekauft haben, ist jetzt durch sachverständige Köpfe sozusagen kultiviert worden. Die Sammlungen sind gut geordnet, so viel wie möglich erhielt jeder Künstler einen Raum für sich. Das gilt allerdings mehr für dieGalerieSchtschugin als fürMorosoff, Die Sammlungen sind am reichhaltigsten für den oben genannten Zeitraum- Aber sie beginnen mit kleinen Manets, bringen von Monet charakte- ristische Werke aus jeder Entwicklungsstufe, ebenso für Renoir, Degas, Sisley, zeigen Carriere, Simon, Cottet, Das gleiche gilt für Cezanne, Der große Reichtum beginnt mit Gauguin, von dem etwa zwei Dutzend schönster Werke dahangen. Van Gogh ist etwas weniger zahlreich vertreten, aber dafür mit besten Proben seiner eigensten Art, Picasso marschiert mit rund fünf Dutzend Bildern auf, aus allen Perioden stammend, Matisse mit zwei bis drei Dutzend, Rousseau mit einem Dutzend, Im Hause Morosoff finden sich die großen dekorativen Gemälde von Bonnard im Aufgang, im Speisesaal die Dekorationen von Maurice Denis, Es fehlen nicht die Künstler der Gefolgschaften, deren Namen hier nicht genannt zu werden brauchen. Der Bildhauer Maillol ist ebenfalls sehr gut vertreten. Sehr viele von den Bildern hatte ich in den Pariser Aus- stellungen gesehen, in denen sie zuerst vor der Oeffentlichkeit erschienen. Auch die Dekorationen von Bonnard und Denis waren im Herbstsalon ausgestellt. Aber ich muß gestehen, daß diese ganze Malerei mir bei der Wiederbegegnung hier in Moskau, wo sie aus der Pariser Umgebung herausgenommen ist, tieferen Eindruck machte, Sie wirkte mehr mit ihrem individuellen Werte, möchte ich sagen, dort sah man den einzelnen Künstler immer zu sehr als Exponent einer Das Recht auf Kunst 43 „Richtung", Und vor allem, die Künstler treten mit ihrer ganzen künstlerischen Habe auf, sie erscheinen als Persönlichkeiten, die sich trotz der Schulzugehörigkeit scharf abheben, Sie erobern sich auch leichter die Herzen. Vor Picasso sah ich jemanden die inneren Widerstände aufgeben, die er bis jetzt gegen die Kühn- heiten des Malers in sich gepflegt hatte. Man sieht gerade von Picasso freilich auch, daß seine rein kubistischen Sachen seine besten Qualitäten gar nicht erkennen lassen, weder koloristisch noch in seiner großzügigen Auffassung. Das Recht des Volkes auf Kunst hat noch andere Schätze ans Licht gebracht, die herrlichen alten Geigen, die Stradivari, Amati, Guarneri, die in irgendeiner Vitrine reicher Häuser ein Museumsdasein als Schaustück führten. Diese Instrumente wurden gesammelt und einer besonderen Staatsbehörde unter- stellt, die sie nach einem Wettbewerb auf gewisse Zeit an aus- übende Musiker vergibt. Die Künstler übernehmen die Ver- pflichtung, eine Anzahl Volkskonzerte zu geben. Daneben können sie öffentliche Konzerte veranstalten. So ist Moskau zu einem Kammermusikquartett mit echten Stradivari ge- kommen. Wer Gelegenheit hatte, etwa das Adagio von Schuberts Streichquintett auf diesen wunderbaren Instrumenten zu hören, wird das vielleicht zu seinen schönsten künstlerischen Erlebnissen zählen dürfen. 44 Bei den deutschen Lokomotiven Bei den deutschen Lokomotiven, Zwei schöne Oktobertage im Waldai-Gebirge! Ueber der russischen Landschaft liegt die Klarheit der ersten Fröste, die weißen Birken tragen weißen Reif in den Kronen, auf den Teichen glitzert junges Eis, der Msta, den wir auf hoher Brücke kreuzen, trägt bereits Eisschollen dem Ilmensee zu, der einige fünfzig Werst westlich von uns liegt. Der Schlafwagenzug — die Einrichtung tadellos wie vor dem Krieg — hatte uns in der Nacht von Moskau hierher gebracht nach Malaja Wischera oder genauer an den Bahnhof dieses Landstädtchens. Der Sonderzug fuhr — die russischen Ingenieure taten es für ihre fremden Gäste — stellenweise über hundert Kilometer die Stunde, Ich erwähne das, weil solche Stichproben aus dem Rußland von heute zeigen, daß nicht alles kurz und klein ge- schlagen ist, wie man sich draußen oft vorstellt. Die Tage, die die Vertreter der deutschen Lokomotivfabriken mit den russischen Eisenbahnbeamten verbrachten, haben auch den festen Eindruck hinterlassen, daß in Rußland lebendige Kräfte am Werk des Wiederaufbaus wirken, daß es hier Beamte gibt, hohe und niedrige, die in der allgemeinen Not nicht ablassen von der Erfüllung ihrer Pflichten, Die bedeutende Bestellung von Lokomotiven in Deutschland und Schweden ist ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung des Transportwesens, Die äußerst schwere Probe, der hier als erste eine deutsche Hentschel- Lokomotive unterworfen wurde, bewies, wie ernst die russischen Ingenieure ihre Aufgabe nehmen. Die deutschen Fachleute, die der Probe beiwohnten, sagten mir, daß bei uns die Prüfung nicht Bei den deutschen Lokomotiven 45 strenger hätte sein können. Die Russen hatten dafür die Strecke der Petersburg - Moskauer Bahn von Malaja Wischera nach Okulowka (etwa 80 Kilometer] gewählt, auf der die Züge die sehr starke Steigung bis zur Höhe der Wasserscheide auf den Waldai-Bergen zu überwinden haben. Die bis jetzt gelieferten neun Lokomotiven (ein Schiff mit weiteren neun wird in Peters- burg erwartet) hatten auf anderen Strecken Probefahrten gemacht und sind bereits endgültig übernommen. Den Auftrag- gebern stand jedoch das vertragsmäßige Recht zu, nach Belieben die Lokomotiven einer besonders schweren Probe zu unter- ziehen. Dieser Probe galt unsere Fahrt hierher, Professor Lomonossow, ein Eisenbahnfachmann, der sich schon vor dem Kriege Verdienste erworben hat und auch jetzt als technischer Beamter einen ersten Platz einnimmt, hat sich in diesen Tagen als ein Organisator offenbart, der seinen Gästen durch seine großzügige russische Lebensart den Aufenthalt ebenso angenehm wie interessant zu gestalten wußte, Herr Lomonossow hatte die Lieferungsverträge selbst in Deutschland abgeschlossen. Hier hat er nun in eigener Person die Loko- motive auch über die Prüfungsstrecke geführt. Der Lastzug bestand aus sieben oder acht Schlafwagen und einer großen Zahl angehängter Güterwagen, die ihm eine Länge von nahezu einem Kilometer gaben. Beiläufig sei bemerkt, daß die sämt- lichen deutschen Lokomotiven für Güterzüge bestimmt sind. Hinter dem Tender war der dynamometrische Wagen ein- geschaltet, in dem die verschiedenen Apparate zur Messung der Kraftleistung, der Geschwindigkeiten usw. eingebaut sind. Es kann mir nicht einfallen, mich auf technische Einzelheiten ein- zulassen. Ich habe im Meßwagen beobachten können, wie sorg- fältig die russischen Ingenieure ihre Aufnahmen machten, auch auf der Lokomotive konnte ich mich eine Zeitlang aufhalten. Das Ergebnis der Prüfung war glänzend: die Lokomotive fuhr tadellos, lief sich nicht warm, leistete ihre geforderte Zugkraft tind blieb mit ihrem Darapfverbrauch von neun Kilogramm um 46 Bei